Das Röthenloch
Ein Bauernhof mit langer Geschichte
Das Röthenloch 1674-2024 – ein Haus im Gang durch die Jahrhunderte
von Lisa Bender
Wenn Häuser aus ihrer Geschichte erzählen könnten, von allem, was sie erlebt und gesehen haben, würden den Menschen die Ohren gellen vor Geschichte und Geschichten. Endlos wären die Geschichten von Menschen und Tieren, die in den Häusern lebten. Es wären Geschichten von Aufbrüchen, Hoffnungen, Enttäuschungen, Streit, Neuanfängen, Liebe und Leben, von geschichtlichen Großereignissen – und von viel Alltag.
Aber Häuser erzählen ihre Geschichten und die Geschichten ihrer Bewohner nur indirekt. Manche Spuren am Gebäude selbst geben Zeugnis von der Zeit, in der sie standen. Anderes wird erst durch das Forschen in Archiven und Lektüre von Unterlagen erkennbar. Aber es lohnt sich, den (Bau-)Geschichten von Häusern nachzugehen. Denn manche Häuser erzählen Geschichten – und sind zugleich lebendige Zeugnisse anderer Zeiten, die in Zukunft von unserer Jetztzeit erzählen werden.
Ein Beispiel dafür ist das Röthenloch in Unterkirnach. 2024 feiert das Haus seinen 350. Geburtstag. Familie Richter, die den Hof bewohnt, begeht dieses Jubiläum mit einer zehntägigen Fest- und Veranstaltungszeit – und lädt ein, das bäuerliche Leben im Schwarzwald als konkrete Hausgeschichte zu erleben.
Klaus und Silke Richter kauften das Haus 2002 von der Stadt Villingen und machten sich daran, das Haus liebevoll zu renovieren. Seither erforscht die Familie die Geschichte des Hauses und der Menschen, die darin lebten.
Gebaut wurde das Haus 1674. Unterkirnach war seit 1510 ein Dependenzort zu Villingen – was bedeutet, dass die beiden Orte in einer gegenseitigen Abhängigkeit lebten, in der die Stadt aber mehr Macht hatte. Villingen gehörte zum (nachreformatorisch katholischen) Vorderösterreich.
Im Baujahr des Röthenlochs war der 30jährige Krieg, der auch die Region um Villingen schwer getroffen hatte, formell über 26 Jahre vorbei. Im Krieg waren die Dörfer und Höfe im Schwarzwald oft geplündert und verheert worden – von allen beteiligten Kriegsparteien, „Verbündeten“ und „Gegnern“. Die Soldaten hatten es auf das Vieh in den Höfen abgesehen, das manchmal auch Stadtbewohnern gehörte, die es zum Schutz hierhergebracht hatten. Die Menschen lebten in großer Unsicherheit; Gewalt und Tod waren beinahe alltäglich. Viele suchten in der befestigten Stadt Schutz vor den Überfällen. Als der Krieg zu Ende ging, waren viele Städte daher überbevölkert; so auch Villingen. Damit Menschen wieder aus der Stadt weg und in die Dörfer zogen, unterstützte die Stadt Villingen den (Wiederauf-)Bau von Höfen in ihren Dependenzorten. So wurden 1674 unter anderem das Obere und das Untere Rötenloch gebaut. Vom Oberen Rötenloch finden sich heute keine Spuren mehr – das Untere Rötenloch hat sich erhalten. Dort ist die Jahreszahl 1674 in einem Holzbalken über der Tür erkennbar.
Als Erbauer wird Christian Glatz genannt, Mitglied einer Schwarzwaldfamilie, deren Angehörige im 20. und 21. Jahrhundert die Geschichte des eigenen Geschlechts sorgfältig erforscht haben. Christian Glatz wurde am 19. November 1640 in Kirnach geboren. Im Alter von 25 Jahren heiratete er Magdalene Hippach aus Villingen, die zwölf Kinder gebar. Als Christian das Untere Röthenloch baute, war er 34 Jahre alt.
Beim Röthenloch handelt es sich um einen „Zinken“, um ein einzeln stehendes Bauernhaus in einem Tal, dessen Grundstück weit in den Stadtwald ragt. Im Wald entspringt eine Quelle, die den Hof selbst in heißen Sommern des 21. Jahrhunderts bisher zuverlässig mit Wasser versorgt. Christian Glatz baute zunächst ein zweiraumbreites Bauernhaus, das – wie viele Schwarzwaldhäuser – direkt an den Hang gebaut ist und daher auf zwei Stockwerken einen „ebenerdigen“ Zugang hat. Auf der unteren Ebene liegt bergseitig der Stall für das Vieh. Hier befinden sich heute eine Toilette sowie Wirtschafts- und Waschräume.
Auf der anderen Seite des Hauses, getrennt durch einen Flur, liegen Stube und Küche. Die Küche ist der einzige gemauerte Raum des Hauses, alle anderen Teile sind aus Holz. Sie hatte ursprünglich keinen Kamin; der Rauch zog durch ein Loch im Dach, der sogenannten Rauchhurt oder Gwölm, ab. Was heute archaisch anmutet, ist ein kluges System des Wärme- und Luftaustauschs. Im oberen Stock vermischen sich die trockene, warme Luft der Küche mit der feuchten Stallluft. Durch den Wärme- und Feuchtigkeitsaustausch kondensiert die Luft nicht, was Moder- und Schimmelbildung im ganzen Haus verhindert. Außerdem wurden im Rauchabzug der Küche Fleischvorräte geräuchert. Seit dem 20. Jahrhundert ist in der Küche ein zweites Fenster auf Höhe des Obergeschosses eingebaut, das die Küche mit Licht versorgt. Herd und Backofen werden heute mit Gas betrieben. Zur Zeit der Erbauung des Hauses aber war die Küche ein dunkler und stets rauchgeschwängerter Ort. Ursprünglich gab es keine Verbindungstür zwischen Küche und Stube; zur Küche gelangte man nur über den Flur.
Vor der Küche befindet sich die Stube mit einem Kachelofen, der von der Küche aus geheizt wird. Früher war die Stube der einzige Raum, der beheizt wurde. Der Ofen, der heute im Röthenloch steht, ist nicht der ursprüngliche; er ist sogar älter als das Haus, in dem er heute steht (Baujahr um 1600). Um den Kachelofen verläuft eine Ofenbank und darüber Ofenstängle zum Trocknen nasser Kleider. Die Stube bildete den Mittelpunkt des Hauses. Sie liegt auf der wetterabgewandten Seite des Hofes. Eine Besonderheit der Schwarzwaldhäuser sind die großzügigen Stubenfenster. Eines der alten Fenster hat sich auf dem Rötenloch erhalten [Abbildung]. Es bildete die Grundlage für die Renovierung der Fenster in der Stube. Die breite Fensterfront versorgte die Stube auch im Winter mit ausreichend Licht, das für die Arbeit benötigt wurde. Anders als heutige Fenster lassen sich die kleinen einzelnen Scheiben im Rahmen verschieben und sorgen so für ausreichend Belüftung.
Unter den Fenstern ist eine Sitzbank aufgebaut, die einen großen Esstisch umfasst. Der „Herrgottswinkel“ mit Kreuz liegt dem Ofen gegenüber und zeigt nach Süden. Als Dependenzort des vorderösterreichischen Villingens war Unterkirnach – und damit auch die Bewohner des Röthenlochs – katholischer Konfession, was sich im Herrgottswinkel erkennen lässt.
Über eine als Schranktür versteckte Treppe, dem Stegenkasten, gelangt man direkt von der Stube in die Schlafkammer im zweiten Stock. Diese Kammer ist auch über eine Treppe im Flur zu erreichen. Ihr gegenüber liegen die Kammern der Knechte, die ursprünglich nur Türen zur Außenwand hatten – die Knechte mussten also das Gebäude verlassen, um über den Balkon in ihre Kammer zu kommen.
Neben den Kammern für die Knechte lag die Tenne, auf der Stroh und Heu gelagert wurde. Seit dem 16. Jahrhundert wurden in den Schwarzwaldhäusern Hocheinfahrten gebaut. Über diese konnte der Heuwagen auf der Hangseite ebenerdig in das Haus gefahren und dort entladen werden. Die Tenne wurde bei der Renovierung durch Familie Richter nicht gedämmt.
Gemeinsam mit dem Oberen Röthenloch nutzten die Bewohner des Unteren Röthenlochs eine Mühle, von der sich heute keine Spuren mehr finden. Klaus Richter baut jedoch eine historische Mühle aus Oberkirnach auf dem Gelände des Röthenlochs wieder auf. Die Bauern im Schwarzwald versorgten sich selbst mit allem Lebensnotwendigen – sie bauten Gemüse an, hielten und schlachteten Vieh, verarbeiteten Holz und Stroh auf vielfältige Weise, mahlten Korn und buken selbst Brot. Einen Bäcker gab es in Unterkirnach erst im 19. Jahrhundert, als die Tagelöhner, Uhr- und Fabrikarbeiter versorgt werden wollten.
1674 wurde das Röthenloch gebaut – sieben der zwölf Kinder von Christian und Magdalene Glatz werden dort geboren worden sein. Für uns Heutige lebten die Menschen damals in einer anderen Welt: in den langen Wintermonaten lag viel Schnee, der den Weg zu anderen Höfen oder ins Dorf zu einer anstrengenden Reise machte, es war dunkel, und unsere heutigen Geruchsgewohnheiten wären wohl überrascht von der Mischung aus Rauch, Dung und Schweiß, der die Bauernhäuser und ihre Bewohner selbstverständlich umgab.
Christians und Magdalenes ältester Sohn Johann, geboren 1667, siedelte wie seine Brüder Andreas (geboren 1671) und Christoph (geboren 1684) in Mariazell; Georg, 1668 geboren, wohnte in Kirnach. Christophs Zwillingsbruder Josef lebte später in der Pfalz. Der jüngste Sohn Christian, geboren 1686, erbte den Hof. Im Schwarzwald galt das Anerberecht, wonach der jüngste Sohn den ungeteilten Hof erbte, seine älteren Geschwister aber abfinden muss. Sohn Christian lebte auf dem Röthenloch; 1709 verheiratete er sich mit Magdalene Ganter aus Villingen. Das Paar hatte sieben Kinder, von denen nur vom Jüngsten, Anton (geboren am 27.12. 1726), nähere Lebensdaten bekannt sind.
Zunächst aber lebten Christian (sen.) und Magdalene Glatz geborene Hippach zusammen mit Christian (jun.) und Magdalene Glatz geborene Ganter im Röthenloch. Der jüngste Sohn hatte als Hofbesitzer die Eltern zu versorgen und ihnen Wohnraum bereitzustellen. Deshalb wurde 1723 hinter der Küche ein weiterer Raum, die Wiederkehr, angebaut. Wahrscheinlich handelt es sich dabei um die Stube für den Altbauern. An den Deckenbalken ist erkennbar, dass auch von der Wiederkehr aus ein Stegenkasten (also eine verkleidete Treppe) in die darüber gelegene Kammer führte. Auch die Wiederkehr des Röthenloch ist – wie Küche und Stube – unterkellert. Damit war der Altbauer auf dem Hof mitversorgt – und am Haus ein weiteres bauliches Zeugnis für die Lebensgewohnheiten und Zeitumstände seiner Bewohner entstanden.
In der nächsten Zeit lässt sich die Geschichte des Röthenlochs nur indirekt und über kleinere Hinweise erzählen. Sicher ist, dass das Röthenloch in diesen Jahren den Besitzer wechselte. Der nächste Erbe der Glatz-Familie wäre, wie bereits erwähnt, Christians (jun.) und Magdalenes jüngster Sohn Anton (geboren 1726) gewesen.
Bereits vor Antons Geburt wechselte das Röthenloch jedoch den Besitzer. Die genauen Umstände des Verkaufs sind nicht bekannt. In einer Unterkirnacher Chronik von 1723 ist als Besitzer des Röthenloch jedoch Jakob Schmid genannt. Der Name taucht auch in einem Dokument über die Unterkirnacher Auswanderer des 18. Jahrhunderts auf. Wirtschaftliche oder persönliche Gründe führten damals wie heute viele Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen und ihr Glück in weit entfernt liegenden Gegenden zu versuchen. Der Schwarzwald galt im 18. Jahrhundert als überbevölkert und konnte den Zuwachs an Bevölkerung nicht tragen. Zugleich suchte die österreichische Kaiserin Maria Theresia (1717-1780; regiert ab 1740) für ihr Herrschaftsgebiet in der Batschka (heute auf dem Gebiet Ungarns und Serbiens gelegen) Siedler, die das Land urbar machen sollten. Daher zogen im 18. Jahrhundert Werber durch die vorderösterreichischen Länder, die die Aussiedlung bewarben. In Unterkirnach werden vor allem zwei Auswanderungswellen (1754/55 und 1760/62) genannt. Unter den Auswanderern des Jahres 1760 ist auch Catharina Netinger, die schon zehn Jahre in Ungarn lebte und für die Jacob Schmidt aus dem „Rötenlöchle“ die Nachsteuer über 25 fl. (= Gulden) zahlte. Hier findet sich ein weiterer Hinweis, dass das Röthenloch im späten 18. Jahrhundert von der Familie Schmid bewohnt war.
Das Auswandern ist mit erheblichen Risiken verbunden, im 18. Jahrhundert wohl noch mehr als heute. Schon die Reise war gefährlich; unter welchen Bedingungen die Aussiedler leben würden, war keineswegs sicher. Der Nachrichtenaustausch mit der früheren Heimat im Schwarzwald dauerte Wochen; viele sahen ihre Ursprungsfamilien und ihre Heimat nach der Auswanderung nie wieder. Dennoch war der wirtschaftliche und persönliche Druck so stark, dass im 18. Jahrhundert wohl mindestes 50 Personen Unterkirnach verließen. Die Auswanderungswellen veränderten das Dorfleben. Auf dem Röthenloch war das Auskommen für die Bewohner einigermaßen gesichert – die meisten lebensnotwendigen Dinge konnten auf dem Hof selbst hergestellt werden.
1773 erblickt ein weiterer Jakob Schmid im Röthenloch das Licht der Welt. Er heiratete Marie Agathe Dufner, deren Sohn Isidor 1814 das Licht der Welt erblickte. Jakob Schmid verstarb 1852 – in seine Lebenszeit fallen also gewichtige Ereignisse wie die Französische Revolution (1789), die Koalitionskriege 1803-1815, die Entstehung des Großherzogtum Baden 1806 sowie die Badische und deutsche Revolution von 1848/49. Mit dem Pressburger Frieden kam Villingen mit seinen Dependenzorten 1805 an das (evangelische) Herzogtum Württemberg, durch Gebietstausch 1806 an das neu entstandene Großherzogtum Baden, deren Herrscherfamilie ebenfalls evangelisch war. Die konfessionelle Zusammensetzung der Dörfer und Städte aber änderte sich auch im 19. Jahrhundert nur langsam. Das religiöse Leben in Unterkirnach wurde zu dieser Zeit deutlich aufgewertet. Mussten die Unterkirnacher früher für die Messe nach Villingen laufen, kam Ende des 18. Jahrhunderts alle zwei Wochen ein Priester für die Kommunion in die örtliche Kapelle. 1814 wurde Unterkirnach eine eigene Pfarrei.
Man könnte annehmen, dass die europaweit bedeutsamen Entwicklungen des frühen 19. Jahrhunderts in den Tälern des Schwarzwalds kaum wahrgenommen wurden oder keine Bedeutung hatten. Und sicher wurden die politischen Entwicklungen in Karlsruhe, Frankfurt oder Berlin anders diskutiert als im Schwarzwald. Ein Herrscherwechsel hatte jedoch auch unmittelbare Folgen auf das Alltagsleben der Menschen in den Dörfern. Die Stadt Villingen verlor die Eigenständigkeit und wurde eine neben vielen Städten im von Karlsruhe aus regierten Großherzogtum. Damit verbunden war, dass Unterkirnach kein von Villingen abhängiger Ort mehr war. Die Stadt Villingen löste nun die alten Waldweide-Erlaubnisse für die Waldbauern des Schwarzwalds auf. In diesem Zuge erhielt Jakob Schmid vom Unteren Röthenloch 1838 eine Bargeldentschädigung in Höhe von 330 Gulden für die Waldweide-Ablösung. Die Stadt Villingen kaufte im 19. Jahrhundert, wo immer es möglich war, Waldgrundstücke auf, um die Forstwirtschaft auszubauen – später auch, um den Wald als Erholungsgebiet nutzen zu können. Über Jahrhunderte war der Wald als Weidefläche genutzt worden; der Verbiss durch die Tiere schadete dem Wald. Die Brennholzrechte der Höfe war eine weitere Belastung für den Wald. Zudem suchte die Stadt Gebäude im Wald, die sie als Unterkunft für die Waldarbeiter nutzen konnte. Dabei löste Jakob Schmid seine Waldweide ab; im späten 19. Jahrhundert sollte die Stadt Villingen das ganze Röthenloch kaufen (das Obere Röthenloch 1875, das Untere Röthenloch 1882).
Unterkirnach war über das ganze 19. Jahrhundert ein kleines, weit verstreutes Schwarzwalddorf. Noch 1866 will das Bezirksamt keine Nachtwache für Unterkirnach bestellen, weil von den 116 Häusern im Ort 16 Häuser in einer halbstündigen Entfernung, über 100 aber in einer Entfernung von einer Stunde in verschiedene Richtungen verteilt seien. Eine Nachtwache sei bei dieser Ausdehnung nicht ausführbar. In einer Zeit, in der die meisten Strecken zu Fuß bewältigt werden mussten, prägte diese Siedlungsform das Alltagsleben. Das Leben auf den Höfen war gerade im Winter einsam; zugleich gab es einen starken Zusammenhalt zwischen den benachbarten Höfen eines Ortes.
Im 18. und 19. Jahrhundert versuchte die jeweilige Obrigkeit, stärker (und erfolgreicher) als in früheren Zeiten das Leben der Untertanen und Bürger zu ordnen. Aus dieser Zeit liegen verschiedene Verordnungen vor, die die Brandgefahr in den Häusern und Höfen dämmen sollten. In Baden wurde bereits 1754 der Einbau von Kaminen verpflichtend, weil der Rauchabzug über das Dach als Feuergefahr angesehen wurde. Mit dem Übergang an Baden 1806 wurde diese Verordnung auch für das Röthenloch verpflichtend – und in die Küche musste ein Schornstein eingebaut werden. Der Übergang an Baden lässt sich somit auch am Gebäude ablesen, auch wenn unklar ist, in welchem Jahr genau der Schornstein eingebaut wurde.
1814 wurde im Röthenloch Isidor Schmid geboren (gestorben 1875), der 1844 Elisabeth Dufner, das „Röthenlochliesbethle“, heiratete. Isidor erlebte als junger Mann mit, wie die Revolution von 1848/49 auch in Unterkirnach Anhänger fand und wie die Schwarzwaldbahn seit 1873 auch Unterkirnach in damals sensationeller Geschwindigkeit und Bequemlichkeit mit anderen Orten an der Bahnlinie verband. Die Auflösung der Zünfte sowie Verdienstmöglichkeiten in den entstehenden Fabriken und Werkstätten änderten auch das Alltagsleben im Schwarzwald. Isidor verdiente seinen Lebensunterhalt noch als Landwirt und Rechenmacher, also ausschließlich auf dem Hof. In der Generation seiner Kinder wird der historische Wandel greifbar. Seine Tochter Fridolina (geboren 1875) gehörte zu den Auswanderern, die im 19. Jahrhundert ihr Glück auf dem amerikanischen Kontinent suchten: sie lebte in Montreal (Kanada), von wo sie ihrer Mutter im Röthenloch 1876 einen Brief schrieb. Aus diesem wird deutlich, dass sich die Hoffnung der Auswanderer auf ein besseres, einfacheres Leben nicht erfüllt hatten. Fridolina berichtet von den schwierigen klimatischen Bedingungen und der Schwierigkeit ihres Mannes, ein Auskommen für sich und die Familie zu finden. Einerseits sehnt sie sich im Brief zu ihrer Familie zurück, ist sich aber auch bewusst, dass nach dem Tod des Vaters die Zeiten dort auch nicht einfacher geworden sind.
Fridolinas Bruder Leopold (1850-1930) erbte das Untere Röthenloch, wo er bis 1920 leben sollte. Als junger Mann hatte er eine Affäre mit Friedline Wiedel (geboren 1848), aus der ein uneheliches Kind hervorging. Leopold ließ Friedline sitzen; sie musste das Kind allein großziehen. In der damaligen Zeit war sie als unverheiratete Mutter sozial schlecht gestellt und übel beleumundet, bis sie 1877 den verwitweten Landwirt und Weber Matthäus Weißer (geboren 1830) aus dem Hippengehr heiratete. Leopold aber heiratete 1876 Kordula Dufner, die er schon als kleines Mädchen gekannt hatte (und die eventuell schon seine Jugendliebe war). Denn Familie Dufner wohnte bis 1875 im Oberen Röthenloch, das der Uhrengestellmacher Rudolf Dufner an die Stadt Villingen verkaufte. Wie bereits erwähnt, kaufte die Stadt Villingen im 19. Jahrhundert viel Wald- und Weidefläche. Das Obere Röthenloch wurde 1881 oder 1882 abgerissen; die Familie von Rudolf Dufner lebte danach in der Brunnengasse 8 in Villingen.
Seine Tochter Kordula jedoch lebte nach ihrer Hochzeit mit Leopold wieder im Röthenloch, nun eben im Unteren Röthenloch. Ihr Leben wird in einem Zeitungsartikel des Schwarzwälder Tagblatt eindrücklich geschildert. Der Artikel entstand in den späten 1930er Jahren; man war sich damals wohl bewusst, dass die Zeiten sich rasant änderten und eine Lebensbeschreibung einer einfachen Bauersfrau von Interesse sein würde. Kordula war laut dem Artikel eine fröhliche, fleißige und tüchtige Frau, die auf dem Hof „selbst vor rechten Mannsvolksgeschäften wie Mähen und Sähen“ nicht zurückschreckte, sechzehn Kinder gebar und ein weiteres Kind einer ledigen Frau annahm. Ihr Mann Leopold dagegen sei oft ein Griesgram gewesen und zu den eigenen Kindern sehr streng und unnahbar. Die fröhliche Kordula hat wohl zwischenzeitlich bereut, diesen Mann geheiratet zu haben – ändern ließ sich das im 19. Jahrhundert (auf dem Dorf) freilich nicht mehr.
Leopold hat als Hauseigentümer seinen Namen im Gebälk des Hofes hinterlassen: auf einer hölzernen Dachschindel steht sein Name und dazu die Jahreszahl 1872. Mit welchem Material das Haus vorher gedeckt war, ist unbekannt. Seit dem 18. Jahrhundert versuchten die Behörden im süddeutschen Raum, Tonziegeln auf den Dächern zum baulichen Standard zu machen – damit sollte die Feuergefahr weiter verringert werden. Die vorderösterreichischen Behörden geboten bereits 1754 dort, wo es möglich sei, Dachziegeln anstelle von Stroh zu verwenden; die badischen Behörden verboten 1830 den Einbau von Holzschindeln, auch wenn ein Dach nur ausgebessert werden sollte.
Leopold arbeitete auf dem Hof und als Waldarbeiter, bis er als einer der ersten Unterkirnacher Fabrikarbeiter wurde. Nun lief er für 40 Jahre jeden Arbeitstag zwei Stunden vom Röthenloch nach Vöhrenbach, wo er von 6 Uhr morgens bis 7 Uhr abends (mit einer Stunde Mittagspause) arbeitete, und am Abend wieder zurück ins Röthenloch. Zwar war der Verdienst in der Fabrik ähnlich wie der als Waldarbeiter, allerdings zahlte die Fabrik den Lohn auch im Winter. Die Arbeitsbedingungen des 19. Jahrhunderts unterscheiden sich stark von den Arbeitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts. Bei Lohnkürzungen arbeiteten die Angestellten mehr, auch von zu Hause aus; Akkordarbeit und Überstunden sollten die Lohnkürzungen ausgleichen. Zudem arbeiteten Kordula und, sobald sie groß genug waren, die Kinder auf dem Hof. Auf diese Weise hatte die Familie ein gesichertes Auskommen.
Allerdings hatte bereits Leopolds Vater Isidor eine Bürgschaft von Hilarius Weißer übernommen. Weißer war der Wirt des Neuhäusle. Als Weißer sein Geld einforderte, verkaufte Leopold zunächst einen Acker, 1882 schließlich das ganze Untere Röthenloch an die Stadt Villingen. Er erhielt dafür 4457 Mark. Die Familie konnte den Hof anschließend pachten. Kordula arbeitete nun als Plattenmacherin und Reiswellenbinderin. Im Ersten Weltkrieg starben ihre Söhne Jakob, Otto und Emil. Kordula selbst starb 1920 im Röthenloch – „Ihrer Lebtag war sie arm an Besitztum, reich an Kindern, am reichsten aber an Gemüt“, heißt es über ihr Leben. Leopold zog daraufhin aus dem Röthenloch aus. Zu den Kindern von Kordula und Leopold Schmid zählte Gustav Schmid, der drei Töchter Maria, Elisabeth (Lisa) und Paula hatte. Paula Schmid heiratete 1942 Gottfried Schaumann aus Villingen, deren Sohn Werner Schaumann 1971 Margot Götz heiratete. Margot Schaumann ist in Villingen (nicht nur) wegen ihres Engagements in der Fasnet bekannt. Über Gustavs Tochter Lisa sind die Nachfahren der Röthenloch-Bewohner mit den Villinger Familien Haas (Schreinerei in der Warenburgstraße) sowie Mauch verbunden.
Aber zurück zur Geschichte des Röthenlochs. Die Stadt Villingen nutzte das Röthenloch nach Leopolds Auszug als Waldarbeiterhaus. In den 1930er Jahren wohnten dann wieder Mitglieder der Familie Glatz, deren Vorfahren das Haus 1674 erbaut hatten, im Röthenloch: Hubert Glatz bewohnt das Haus mit seiner Familie. Sein Sohn Helmut Glatz lebte seit seinem 6. Lebensjahr im Röthenloch. Er war es, der die berühmte Radmacherwette von 1562 im Jahr 1962 wiederholte: es gelang ihm, innerhalb von 24 Stunden ein Wagenrad selbst herzustellen, dieses nach Rottweil zu rollen, dort ein Mittagessen einzunehmen und das Rad anschließend zurück nach Villingen zu rollen.
In den 1950er Jahren wurde in die Küche eine Zwischendecke eingebaut, so dass über der Küche ein weiteres Zimmer zu Verfügung stand. In dieses Zimmer wurde ein Fenster gebaut, das noch heute erhalten ist. 1954 wurde das Röthenloch an die Stromversorgung angeschlossen. Ein Anschluss an die Kanalisation erfolgte hingegen nie. Heute wird das Abwasser in einer Drei-Kammer-Grube hinter dem Haus gereinigt. In den harten, schneereichen Wintern, wie es sie bis ins 20. Jahrhundert regelmäßig gab, war das Röthenloch häufig vom Dorf abgeschnitten. Noch in den 1950er Jahren wurden die Straßen um Unterkirnach mithilfe eines sechsspännigen Schneepflugs, der teilweise von Ochsen gezogen wurde, geräumt. Dies gibt eine Vorstellung davon, mit welchen Schneemassen die Bewohner des Schwarzwalds damals zurechtkamen – und wie abgeschnitten das Leben auf einem Hof wie dem Röthenloch manchmal gewesen sein muss.
1964 zog Familie Kammerer ins Röthenloch. Die Familie hatte zehn Kinder; auf dem Hof wurde wieder Vieh gehalten und hier auch geschlachtet. Ab den 1990er Jahren wurde das Haus von Waldarbeitern genutzt oder stand leer – bis Familie Richter das Haus Anfang der 2000er Jahre der Stadt Villingen abkaufte.
Zum damaligen Zeitpunkt hatte die Bausubstanz des Gebäudes stark gelitten. Zwar war nie Feuchtigkeit in das Haus gezogen, auch gebrannt hatte es nie. Allerdings war das Gebäude auf der Seite der Küche um 29 Zentimeter eingesackt. Familie Richter, bestehend aus den Eltern Silke und Klaus sowie den Söhnen Marius, Mathis, Lorenz und Linus, bewohnte das Haus zunächst nur in den Sommermonaten. Als die Familie sich entschieden hatte, das Haus zu renovieren, lebte die Familie übergangsweise in einem alten Zirkuswagen auf dem Gelände, während das Haus renoviert wurde.
Bei der Renovierung arbeitete die Familie eng mit dem Büro des berühmten Architekten Prof. Dr. Ing. Ulrich Schnitzer (geboren 1937) zusammen, der sich seit Jahrzehnten für eine historisch würdigende und zugleich den modernen Anforderungen angepasste Sanierung alter Schwarzwaldhäuser einsetzt. Schnitzer und seine Kollegin Maria Plank (geboren 1963) kamen pro Woche einmal auf die Baustelle und besprachen mit den Handwerkern, welche Aufgaben in der nächsten Woche zu erledigen seien. Silke Richter buk während der einjährigen Renovierungszeit jeden Tag einen Kuchen für die Handwerker.
Mit dem Denkmalamt standen Familie Richter und die Architekten in engem Kontakt. Dabei kam es kaum zu Unstimmigkeiten, was die Möglichkeiten einer Renovierung betrafen – das Denkmalamt hätte an einigen Stellen sogar mehr Änderungen erlaubt, als Familie Richter wünschte. Die Zimmerei Göppert aus Schönwald, die viel Erfahrung mit denkmalgeschütztem Bauen hat, wurde für die Holzarbeiten gewonnen.
Eine der ersten Arbeiten bestand darin, das Gebäude wieder aufrecht zu stellen. Eine Baugrunduntersuchung ergab, dass die Schieflage nicht durch einen sumpfigen Untergrund verursacht wurde – es war die Steintonnage, also eine Steinwand, die vor die hölzerne Holzwand gebaut worden war, die auf das Fundament drückte. Wann genau diese Steinwand gebaut wurde, ist unklar; jedenfalls hatte diese Renovierung schlimme Folgen für die Stabilität des Hauses. Fünf bis zehn hydraulische Pumpen hoben das Haus in einem Zeitraum von zwei Wochen wieder ins Lot. Nun folgten weitere Sanierungsmaßnahmen. Beispielsweise wurde das Haus nach modernen Gesichtspunkten gedämmt – nicht aber in der Tenne, denn hier ist die Gefahr zu groß, durch Modernisierung unbewusste Folgeschäden zu verursachen. Auch die Dachfläche blieb geschlossen; moderne Fenster wurden nicht eingebaut. Familie Richter entschloss sich, die alten Holzschindeln auf dem Dach zu belassen und mit einem neuen Dach mit Holzschindeln zu überbauen. Im Dach musste nur ein Balken ausgetauscht werden – sonst war das Dach über Jahrhunderte dicht. Neu gebaut wurde dagegen der Glockenturm auf dem Dach des Hauses, mit dem nun regelmäßig zu den Mahlzeiten geläutet wird.
Der frühere Stall des Hauses wurde zu Toilette und Wirtschaftsraum umgebaut. Da dessen Wände jederzeit wieder ausgebaut werden können, um das ursprüngliche Raumerlebnis wiederherzustellen, stimmte das Denkmalamt dieser Lösung zu. In der Küche wurde die Decke, die in den 1950er Jahren eingezogen worden war, entfernt. Das Fenster im früheren Zimmer über der Küche blieb erhalten; die frühere Tür in die Kammer über der Küche ist heute ein Fenster. In der Stube wird weiter mit Holz geheizt; gekocht wird jedoch mit Gas. Alle elektrischen und sanitären Leitungen wurden erneuert.
Dass ein 350jähriges Bauernhaus bis heute in seiner Bausubstanz erhalten blieb und immer noch mit Leben gefüllt ist, will Familie Richter feiern: In einer Festwoche vom 5. bis 14. September 2024 wird auf dem Röthenloch öffentlich gefeiert. Es wird einen ökumenischen Festgottesdienst mit den Villinger Dekanen Josef Fischer und Wolfgang Rüter-Ebel geben, einen Waldtag, Theateraufführungen, Live-Musik, Verköstigung und viele Aktionen. Das genaue Programm und viele weitere Informationen können ab Dezember 2023 unter www.350jahreroethenloch.de abgerufen werden. Denn 350 Jahre sind ein Grund, dankbar zu sein – und zu feiern, dass die Geschichte unserer Region dank des großen Engagements vieler Menschen wie Familie Richter lebendig und damit gegenwarts- und zukunftsfähig bleibt.
Literatur:
Bräun, Wolfgang, Die erste Bahn schnaubt 1869 nach Villingen, abgerufen am 12.8. 2023 unter https://www.villinger-geschichten.de/die-erste-bahn-schnaubt-1869-nach-villingen/.
Bräun, Wolfgang, Die Radmacherwette – Seit 400 Jahren Villingens historischer Wettkönig, abgerufen am 12.8. 2023 unter https://www.villinger-geschichten.de/die-radmacherwette-seit-400-jahren-villingens-historischer-wettkoenig/.
Glatz, August, Glatz. Ein Schwarzwälder Geschlecht durch fünf Jahrhunderte (1968), ergänzt und erweitert von Robert Glatz, Karlsruhe 2014.
Hartinger, Walter, Art. Herrgottswinkel, „Hl. Hinterecke“, in: LThK 5, Freiburg 31996, Sp. 21.
Maiwald, Klaus u.a., Unterkirnach. Geschichte einer Schwarzwaldgemeinde. Hrsg. von der Gemeinde Unterkirnach, Bietigheim 1994.
Rodenwaldt, Ulrich, Das Leben im alten Villingen im Spiegel der Ratsprotokolle des 17. und 18. Jahrhunderts, Villingen 1976.
Rodenwaldt, Ulrich, Das Leben im alten Villingen Teil II. Geschichte der Stadt im Spiegel der Ratsprotokolle des 19. und 20. Jahrhunderts, Villingen 1990.
Schimkat, Hella, Mühle entsteht aus vielen Einzelteilen, Schwarzwälder Bote vom 1.10.2029, abgerufen unter https://www.schwarzwaelder-bote.de/inhalt.unterkirnach-muehle-entsteht-aus-vielen-einzelteilen.dbdad65a-b811-463b-9284-430fe2b3b95b.html (Zugriff am 7.8.2023).
Schnitzer, Ulrich, Schwarzwaldhäuser von gestern für die Landwirtschaft von morgen, Stuttgart 1989, abgerufen am 28.7.2023 unter https://www.denkmalpflege-bw.de/fileadmin/media/denkmalpflege-bw/publikationen_und_service/01_publikationen/05_onlinepublikationen/01_schwarzwaldhaeuser/Schwarzwaldhaeuser_22MB.pdf